„Serendipity ist die vom Schicksal gewährte Gunst, unerwartete Entdeckungen zu machen –
eine Gunst, die jedoch nur jene erfahren, deren Geist und Sinne dafür offenstehen.“



Projekt Serendipity

Reisen zum Mittelpunkt


Über Alfred Grafs Schichtarbeiten

 

Franzobel


Zwischen Primzahlen und Atomteilchen besteht eine Beziehung, im Wienerwald wird die Leiche eines von Russen ermordeten Anwalts gefunden, während in Moskau die Punkband Pussy Riot wegen Rowdytum aus religiösem Hass verurteilt wird, und ein Freund, der den bekannten Proust'schen Fragebogen ausfüllt, beantwortet die Frage nach dem größten Unglück dieser Welt mit der Unausweichlichkeit des Todes.

Nun kann man das auch alles umdrehen, die Punkband Pussy Riot als Primzahl sehen, den Fragebogen mit dem Gewicht der Atomteilchen gleichsetzen und die Unausweichlichkeit des Todes nicht als das größte Unglück, sondern als das größte Glück bezeichnen. Ein gläubiger Mensch wird ohnehin zu Letzterem tendieren. Alles verkehrt, alles durcheinander. Man lässt sich tote Anwälte spritzen, hört Proust'schen Punk und der Tod ist eine Primzahl. Wir leben in einer genuss- und ereignissüchtigen Welt, die im Tod nur ein Entsorgen, ein Nicht-mehr-am-Luxus-teilhaben-Können sieht, in einer Zeit der Vereinsamung, wo Brustvergrößerungen, Fettabsaugungen, operierte Schamlippen oder ein Bleichen der Analrosette verzweifelter Ausdruck einer ungestillten Liebessehnsucht sind. In Fitnessstudios werden Körper so lange verbeult, bis sie aussehen wie elektrische Milchschäumer von Alessi. In Restaurants delektiert man sich an Embryos der Nil-Wasserschlange – pochiert in verdampftem Gold – und nippt Drinks mit Pandabärenmilch, deren gestampftes Eis abertausende Jahre alt, aus einem Pol geschnitten worden ist. In Reisebüros kann man die tollsten Abenteuer buchen, Bungeejumping aus (oder in?) Passagierflugzeugen, Tauchgänge zum Urankern Tschernobyls oder Fukushimas, und bald wohl auch Weltraumausflüge.

Um sich seiner selbst zu vergewissern, braucht der aus seinem Mittelpunkt gerissene Mensch etwas immer noch Verrückteres, etwas immer noch Extremeres. Eines aber kann er nicht buchen, eine Reise zum Mittelpunkt der Erde.

Und dennoch kann man eine solche Reise antreten, nicht nur mit Jules Verne, sondern auch mit den Bildern Alfred Grafs, die eine stoische Gegenwelt zur gegenwärtigen Über- und Ausreizung von allem sind. Da geht es durch unzählige Schichten, bekommt man sonderbare Formationen und kleine Wunderwelten vorgeführt, berauschende Strukturen, zauberhafte Überlappungen, stille Muster und aufgeregte Striche. Alfred Graf ist ein Schichtarbeiter, einer, der sich durch geologische Formationen, Materialien und Zeiten kämpft, um sie in einem neuen Zusammenhang zu sehen – ein Prozess, bei dem Serendipity am Werk ist, der glückliche Zufall, der aber nur einem kreativen Geist zufällt.

Gibt es einen Zufall überhaupt? Ist nicht alles vorherbestimmt? Wenn sich seit dem Urknall alles an Gesetze hält, kann es keinen Freiraum geben. Dann hat sich vom Big Bang an alles ausgedehnt und entwickelt, den Gesetzen folgend, wie es immer schon geplant gewesen ist. Auch dieser Text zu Arbeiten Alfred Grafs, die dann genauso von vornherein festgestanden sind. Wenn es aber einen Zufall gibt, dann ist sein geglücktes Auftreten in Alfred Grafs Bilderwelten evident. Und als Betrachter ist man froh, dass ihn einer eingefangen und festgehalten hat.

Manche dieser Bilder wirken tatsächlich so, als kämen sie aus dem Inneren der Erde. Sie haben etwas Dunkles, Tiefes. Andere wieder sind wie eine Ursuppe. Auf manchen stehen Wörter oder es gibt darauf Steine, Einschlüsse, Falten, Aufwürfe, Geäst und Landkarten. Brandspuren, Hautkrankheiten, Kriegsbemalungen archaischer Völker, surreale Landschaften Max Ernsts, Gesteinsformationen, Spuren von Flüssigkeiten, Bachbette, große Vergrößerungen von Insekten oder Pflanzen, versteinerte Tiere, erfundene Inseln, Mondgebirge, Galaxien, verblichene Bilder und noch viel mehr. In Alfred Grafs Arbeiten steckt die ganze Welt. Und wirklich lesen sich die Titel der Bilder wie Stationen einer Reiseroute eines lebenslangen Arbeitsurlaubs. Es handelt sich um Annäherungen an Orte. Orte, deren Mittelpunkt doch derselbe ist.

Natürlich kann so eine im Grunde verinnerlichende Arbeit überall auf der Welt nur in Bezug zu Wien entstehen, dieser einzigartigen Stadt, die wie ein Golfloch ist. Wien? Wien, die Stadt, in der Alfred Graf seit über 30 Jahren lebt. Wien? Diese von Vorarlberg aus gesehen düstere und schmutzige Stadt. Weil sie die Hauptstadt des Verdrängten, ein Stadt gewordenes Überraschungsei ist? Wien, wo der Mittelpunkt der Welt zumindest früher einmal das Kaffeehaus gewesen sein muss, vielleicht das Hawelka, dessen erst im hohen Alter verstorbener Wirtin so bezeichnende Sätze nachgesagt werden wie der folgende von Christian Ludwig Attersee mitgeteilte: Sie hatte so eine Art Naturrassismus. Sie hat immer nur einen Schwarzen ins Lokal gelassen. Wenn ein zweiter kam, hat sie zu ihm gesagt: „Danke, wir haben schon einen.“ Josefine Hawelka, die ihrem Kaffeehaus so verbunden war, dass sie an einem Schließtag gestorben ist.

Von besonders strenggläubigen Katholiken wird, um nur ja nichts vom Weihwasser zu vergeuden, zu Ostern auch die Eierschale mitgegessen. Dazu wird das Ei so lange geklopft, bis die Schale ganz brüchig ist. Wie lange aber muss man Österreich klopfen, um seinen Mittelpunkt zu ahnen? Das Kaffeehaus? Nein, das hat sich überlebt, heute vermute ich den Mittelpunkt von Österreichs Welt eher in den Einkaufszentren und Baumärkten, in den schwarzen Konten der ehemaligen Finanzminister und den ÖMV-Tankstellen und Billas in der Slowakei oder in Polen, bei den Seitenblickemenschen … Nein. Aber unter dieser Oberfläche muss doch auch etwas anderes sein. Etwas, das mich Alfred Graf mit seinen Bildern zumindest ahnen lässt, des Pudels Kern.

In der Medizin sind vergleichbare Reisen längst alltäglich, werden Sonden durch Körper-Galaxien geschickt, pumpt man uns Bilder von Mageninnenwänden, Darmverschlingungen und Ähnlichem, was nicht selten den Bildern der Raumfahrtsonden im Universum gleicht, ins Hirn. Aber bringen uns diese Reisen zu uns selbst? Helfen sie uns, mit dem Tod und den Rätseln unserer Existenz fertig zu werden, oder entfernen sie uns davon nur? Je mehr Kommunikationsmittel wir haben, desto mehr vereinsamen wir, und je mehr Bilder wir von uns sehen, desto mehr entfernen wir uns von uns selbst, können wir uns buchstäblich nicht mehr sehen. Mehr und mehr gleichen unsere Mittelpunkte den Füllungen von Überraschungseiern, sind unsere Kerne nichts weiter als Gimmicks, empfinden wir in unserer Angstgesellschaft tatsächlich den Tod als das größte Unglück.

Insofern ist trotz aller eindeutig zweideutiger Symbolik die unbeschwerte Reise von Jules Verne (auch als Reise zu uns selbst) noch immer zu empfehlen. Und insofern sind auch Alfred Grafs Durchsichtungen von Schichten eine wichtige Gegenansicht zur Welt, wie sie uns sonst überall gezeigt wird. Seine Bilder haben manchmal etwas kindlich Verspieltes, gleichen dann wieder Rückständen oder Abdrücken von Kaffeetassen oder Tellern, um sich plötzlich ästhetisch schön zu präsentieren – und wahrscheinlich ist es gerade dieses Gleichzeitige von Werden, Vergehen und Beständigkeit, das sie so realistisch und natürlich macht, wie Kunst nur sein kann.