„Serendipity ist die vom Schicksal gewährte Gunst, unerwartete Entdeckungen zu machen –
eine Gunst, die jedoch nur jene erfahren, deren Geist und Sinne dafür offenstehen.“



Projekt Serendipity

Sehbericht. Aus Jakob Gasteigers Atelier

Bernhard Kellner


Bilder sehen, Sehweisen ausprobieren, behutsam vorantastend das sichtbar Gewordene benennen. So viel zu meinem Vorhaben. Ich durchquere den Hof der ehemaligen Kosmetikartikelfabrik in der Wiener Westbahnstraße und gelange über die Steintreppe an eine Eisentür. Jakob Gasteiger empfängt mich im Zwischengeschoß, dem Eingangsbereich seines weitläufigen Ateliers. Linker Hand ist durch eine Stahl- und Glaskonstruktion ein Wohnraum zu sehen, rechter Hand die umfangreiche Bibliothek. Das Wort-Universum ist hier vom Bild-Universum, das sich im darüber liegenden Stockwerk befindet, klar getrennt.

Worte und Bilder

Schreiber trifft Maler. Diese Begegnung birgt seit jeher Anlass zu vielfältigen, auch fruchtbaren Missverständnissen. Die sprachlichen und die sichtbaren Zeichenkonstellationen haben zunächst nur gemeinsam, dass sie sich auf Dinge beziehen, die einem gemeinsamen Erfahrungsraum, derselben Welt angehören. Beide folgen je eigenen Gesetzmäßigkeiten. Das Bild-Objekt, wenn es funktioniert, d.h. wenn es aus sich selbst heraus bestehen und wirken kann, ist auf den sprachlichen Interpreten nicht angewiesen. „Die Ästhetik ist für die Kunst, was die Ornithologie für die Vögel ist“ (Barnett Newman).  Das Wort zum Bild ist immer ein nachträgliches und primär den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs geschuldet. Dort allerdings erscheint es unverzichtbar.
 Der Dichter und Kunstkritiker Yves Bonnefoy hat in seinem Essay Malerei, Dichtung: Taumel, Friede einige Aspekte dieses problematischen Verhältnisses behandelt: „Schreiben, und sei es nur ein Wort, schon ist eine Sprache da, geschäftig, und mit all ihren Ambiguitäten, alle Täuschungen – die ganze Vergangenheit des Redens.“ Der Maler agiere dagegen losgelöst vom engen Korsett der Sinnproduktion. Intuitiv kenne der Schreiber „diese andere Art von Wahrheit“, die der Maler und sein Werk repräsentieren. Doch in dem Moment, wo er sich auf den Versuch einlässt, die charakteristische Dichte oder Leere eines Bildes in Worten zu rekonstruieren, sitze er einem „wahnsinnigen Wunsch“ auf, den er in der Folge Satz für Satz wieder aufgeben muss.  
 Der Philosoph und Kunstkritiker Arthur C. Danto beschrieb die dem Bonnefoy‘schen Befund entgegen gesetzte Haltung: die Entmündigung der Kunst durch die Philosophie. Diese versuche seit der Antike, die Kunst zu entschärfen, indem sie sie als etwas behandle, das nur dem Vergnügen, nicht der Erkenntnis diene. Kunst werde als etwas wie „entfremdete“ Philosophie gesehen; erst der sie wach küssende Philosoph erstatte ihr etwas von dem universellen Anspruch zurück, den sie vor der Begründung der abendländischen Philosophie innegehabt haben musste. 
 Soviel zum negative space, zur Projektionsfläche, die sich im Allgemeinen zwischen Maler und Schreiber aufspannt. Die Begegnung mit Jakob Gasteiger stellt für den Schreiber eine besondere Herausforderung dar. Seine Bild-Objekte haben einen Sicherheitsmechanismus gegen jede Art vergleichender Geschwätzigkeit eingebaut. Sie tragen ihre Theorie, sofern es darum geht, in sich.
 Gasteigers Bilder, angesiedelt in einem doppelten Grenzbereich von Grafik/Malerei und Malerei/Skulptur, begegnen einem zunächst äußerst zurückhaltend. Mit ihnen verhält es sich ähnlich wie mit Werken der Dichtkunst: „Die Poesie drängt sich nicht auf, sie setzt sich aus“ (Paul Celan). Für den Dichter bedeutet diese Aussetzung eine existenzielle Erfahrung, die jenseits der alltäglichen Kommunikationsrituale aus Senden und Empfangen liegt, und die eine eigene Form von Zeitlichkeit beansprucht, in der sich Dauer und Augenblick auf überraschende Weise überschneiden.
 Damit ist bereits eine erste Wegmarke zu Jakob Gasteigers Arbeiten benannt: Würde man sie mit Werken der Literatur vergleichen, käme dafür nur das Gedicht als höchste Konzentration von Sprache in Frage. Epische Gattungen oder gar dramatische Werke wären aus dieser eigensinnigen Komparatistik von vornherein ausgeschlossen.

Dialogizität

Über eine Eisentreppe gelangen wir ins obere Geschoß. Im längeren Balken der L-förmigen Raumanordnung befindet sich der Kernbereich von Gasteigers Atelier. Eine Stufenhöhe vom Bodenniveau abgesenkt, wirkt er wie ein riesiges Becken. Durch die nach Süden und Westen ausgerichteten Fenster dringt jede Menge Licht. Ideale Bedingungen für die an der Wand lehnenden großen Formate: horizontal, vertikal und in Rundungen strukturierte Acryl auf Leinwand-Objekte.
 Deren Texturen sind es, die mich zuerst beschäftigen. Aus größerer Entfernung und aus Fotografien kenne ich diese Arbeiten, aber es ist das erste Mal, dass ich mich dem Gewusel, dem ameisenhaften Treiben, das die Oberflächen aus nächster Nähe entfalten, aussetze. Ich registriere eine dreifach paradoxe Wirkung: hart/weich, schwer/leicht, kalt/warm. Das satt aufgetragene, eher düstere, metallisch-kalte Farbmaterial generiert einen hellen und leichten, beinahe textilen Gesamteindruck, etwas wie „anorganische Vitalität“. Einen ähnlichen Eindruck hatte ich bereits einige Jahren zuvor, angesichts eines Lack auf Leinwand-Bildobjekts aus 2003, in dem die glatte Lackschichtung die durchlässige, atmungsaktive Struktur der Leinwand zu verdoppeln schien.
 Den Bild-Objekten stehen einige Aluminiumskulpturen gegenüber: das komplementäre Prinzip. Sie gehen auf ein Verfahren zurück, das man vom Bleigießen zu Silvester kennt. Je nach Wassertemperatur und der Wucht, mit dem das heiße Aluminium der blitzartigen Abkühlung ausgesetzt wird, ergeben sich andere Grundformen, Materialwucherungen, „Zeichnungen“. Dort das puristisch anmutende Strukturieren von Farbmaterial, hier der überschwappende, im Einklang mit dem Zufall generierte Formenreichtum. Beide bringen einen organischen Effekt hervor. Zu den genannten paradoxen Wirkungen kommt eine weitere hinzu: anorganisch/organisch. Es ist, als ob Gasteigers Bild-Objekte eine Schicht freilegten, in der sich die Ausschließlichkeiten wechselseitig in Spannung versetzen und ganz selbstverständlich zu kommunizieren beginnen.
 „Das Bild sagt mir sich selbst“, heißt es in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen: „Dass es mir etwas sagt, besteht in seiner eigenen Struktur, in seinen Formen und Farben.“  Jakob Gasteigers Werke – soviel als zweite Wegmarke – sind dialogisch angelegt, aber es braucht Zeit und Aufmerksamkeit, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wenn diese Voraussetzung gegeben ist, gehen sie auf phatische, d.h. auf die Aufrechterhaltung des Kontakts bedachte Weise selbsttätig auf die Bewegungsabläufe und unterschiedlichen Blickwinkel des Betrachters ein.

Verweigerungen

Schichtenweise rekonstruieren wir die Entwicklungslinien einiger Werkgruppen: die der Aluminiumplastiken in den verschieden stark Raum greifenden Varietäten; die der mit Kartonspachteln strukturierten Öl- bzw. Acryl auf Leinwand-Serien in unterschiedlichen Formaten und Farbstegbreiten; die Lack auf Leinwand-Bild-Objekte, aus denen das Zusammenspiel von Grafik, Malerei und Plastik am deutlichsten hervortritt. Zuletzt stoßen wir in einem Schubladenschrank auf frühe Arbeiten aus den 1980er-Jahren. Gasteiger hat sie Stück für Stück aus der über den Fußboden gebreiteten Abdeckpappe seines damaligen Substandard-Wohn-Ateliers geschnitten.
 Der starke innere Zusammenhang, die enorme Kohärenz der Arbeiten aus drei Dekaden verblüfft. Es ist, als existierte für Gasteiger ein ideales Bild, und jedes fertige Objekt stellte lediglich eine Annäherung dar. Insofern handelt es sich bei jedem Exponat um die provisorische Aktualisierung einer virtuell vorhandenen Vorstellung, um ein Bild-Objekt im Werden. Es ist präsent, strukturiert den Raum, der es umgibt, trotzdem beansprucht es nicht, etwas Substanzielles zu sein. Es will nicht mehr als etwas Akzidentielles sein, die unwesentliche Modifikation einer alles umspannenden Bildidee.
 Diese Bildidee entzieht sich der sprachlichen Fixierung. Sie kann lediglich anhand ihrer realisierten Erscheinungsformen „hochgerechnet“ werden. Womöglich erübrigt sich damit jede Frage nach einem wie auch immer gearteten „Wesen“ der Gasteigerschen Malerei. Es zeigt sich, dass sie weniger über die Frage was? – was sind, zeigen, bezeichnen, sagen seine Bild-Objekte? – als über die Frage wie? zu erschließen ist: Wie werden sie hergestellt? Wie lässt sich die künstlerische Geste beschreiben, die ihnen zugrunde liegt?
 Jakob Gasteigers Bild-Objekte – hier die dritte Wegmarke – scheint auf einer Serie von Verweigerungen zu basieren: Verweigerung des Ikonographischen, der Farbe als Bedeutungsträger, der expressionistischen Geste und subjektiven Aufladung des Arbeitsprozesses, der Auratisierung des einzelnen Bildkörpers (insofern er immer nur Ausschnitt aus einer Serie ist), der assoziativen Betitelung, der angestrengten Suche nach neuen, die Kontinuität brechenden Verfahrensweisen usw. Das Wort Verweigerung muss dazu allerdings von jeder negativen Konnotation befreit werden: im Sinn einer Grund legenden Affirmation, die alles Überflüssige, Flüssige, Halbfeste ausschließt, um zuletzt nur das tragfähigste Feste gelten zu lassen.

Wiederholungsprinzip

Wir sitzen vor Büchern und Katalogen, sprechen über Raum greifende Werkgruppen, die im Atelier nicht gezeigt werden können, wie z.B. die Arbeiten mit Seiden- und Kohlepapier. Meine Aufmerksamkeit changiert zwischen drei Sphären: den vor mir ausgebreiteten Druckwerken, der Gesprächssituation mit Jakob Gasteiger und dem Blick auf das „Becken“. Alle drei Aufmerksamkeitskreise sind von derselben markanten, mitunter unheimlichen Ruhe durchzogen. Hier drängt sich mir das Wort des Comte de Buffon auf: „Der Stil, das ist der Mensch selbst“. 
 Man hat Gasteiger häufig auf ein vermeintlich meditatives Moment in seinen Arbeiten angesprochen. Der Grundton seiner Antworten: „Ich bin doch kein Farbe rechender Mönch.“ Zwar gibt es Bezugnahmen auf fernöstliche Philosophien, und die Arbeiten mit Seiden- und Kohlepapier gehen zum Teil auf Eindrücke zurück, die aus Begegnungen mit der japanischen Kultur herrühren. Trotzdem zielt Gasteiger in keinem Moment auf etwas Transzendentes, Quasi-Religiöses. Alles verbleibt diesseitig, dem Handwerk und der formalen Askese verpflichtet.
 Roland Barthes hat die asketische Praxis bestechend einfach beschrieben: „Zurichtung des Raums, der Zeit, der Gegenstände“. Ihr widerstrebe der gegenläufige Energiestrom, das Pathos, der „vom Imaginären ausgemalte Affekt“.  Alles in Gasteigers Malerei verweist auf Überwindung des Pathetischen. Die Dinge sind, was sie sind. Dass sie sind – hier die vierte Wegmarke – geht auf ein Prinzip beharrlicher Wiederholung zurück: repetitives Herausfordern einer geringen Anzahl von Materialien und Techniken. Ein gutes Beispiel dafür sind die Lack auf Leinwand-Serien. Der Künstler gießt in langsamen Bewegungsabläufen das dickflüssige Material auf die horizontal gelagerte, grundierte Leinwand. Gasteiger hat eine mehr oder minder deutliche Vorstellung davon, wie die fertige Oberfläche beschaffen sein sollte, aber er kann nicht exakt vorausberechnen, wie sich das Material verteilen wird. Zuletzt entsteht durch diese Vorgangsweise eine Art Schrift, die das Wort hinter sich gelassen hat. Diese „Schriften“ ähneln einander und entwickeln hohen Wiedererkennungswert, zugleich könnten sie, einzeln betrachtet, verschiedener nicht sein.

Gebundene Zeit

Neuerlich stehen wir vor der großflächigen, vertikal strukturierten Acryl auf Leinwand-Arbeit mit den hervorblitzenden bunten Glassplittern. Wir sprechen über die einzelnen Arbeitsphasen, in deren Verlauf dieses Bild-Objekt hervorgebracht wurde: Vorbereiten der Kartonspachtel, Anrühren der Farbmasse, Farbauftrag, Strukturierungsvorgang, schließlich die „Erhebung“ des Bildkörpers, wenn er erstmals in vertikale Lage gehievt wird.
 An dieser Stelle die fünfte Wegmarke: Sie bezieht sich auf den Zeit-Aspekt in Gasteigers Arbeiten, auf die Art und Weise, wie die verschiedenen Präsenzen des Produktionsvorgangs im fertigen Bild-Objekt wirksam werden. Aus der Dichtkunst kennt man das Phänomen: Ein Jahrhunderte alter Vers überwindet blitzartig die räumlichen und zeitlichen Distanzen, der Leser wird vom Präsens seiner Entstehung ganz unmittelbar erfasst. Möglicherweise zeitigen die vertikalen Farbstege der Acryl auf Leinwand-Arbeit einen ähnlichen Effekt. Etwas Außerzeitliches haftet ihnen an. Ich hege den Verdacht, dass dies mit den Gegenwarts-Schichtungen zu tun hat. Die in den monochromen Bahnen gebundenen Präsenzen lassen an das Zeitverständnis der Stoiker denken:
 Gegenwart bestimmt und entfaltet sich nur durch Handlung. Sie entzieht sich wohl der Erkenntnis, der Handlung entzieht sie sich nicht. Die freie Handlung grenzt die Gegenwart ab und konstituiert sie, indem sie dem, was sonst nur flüchtiges Fließen wäre, Körper gibt. Das französische Wort für jetzt zeugt noch davon: maintenant, manu tenere, von der Hand festgehaltene, aktualisierte Gegenwart, deutlich geschieden von Zukunft und Vergangenheit. Für die Stoiker lag diese Fertigkeit, eine Gegenwart  hervorzubringen und abzugrenzen in aussparender Disziplin: in gekonnter Begrenzung des Unendlichkeitsstrebens.

Beiläufigkeit, Ironie

„Alles ist viel einfacher, viel banaler“, relativiert Jakob Gasteiger meine Eindrücke, nachdem wir über die Eisentreppe wieder ins Zwischengeschoß mit der Bibliothek gelangt sind. Die Aufladung seines künstlerischen Tuns mit Bedeutung schafft ihm Unbehagen. Seine Arbeitsweise sei ohne dieses spielerische, selbstläufige und vor allem ironische Moment nicht beschreibbar.
 Was über seine Bild-Objekte gesagt wird, sei nicht falsch, aber es gelte auch jeweils das Gegenteil des Gesagten. Erstes Beispiel „Verweigerung der Farbe als Bedeutungsträger“: zweifellos ein Ausgangspunkt seiner Arbeit, aber man dürfe darüber nicht vergessen, dass die Anreicherung mit Bedeutung, insofern sie für den Betrachter immer schon eine Gegebenheit darstellt, durch die Hintertür wieder herein kommt. Zweites Beispiel „Askese in der Wahl der Mittel“: Mitunter zeitigten Reduktion und Überladung dieselbe Wirkung, z.B. das Rauschen in der Textur. Es gibt keine Fetischisierung der Reduktion oder ihres Gegenteils, sondern es kommt darauf an, was zuletzt daraus entsteht. Drittes Beispiel „Monochromie“: Auch sie stellt kein Dogma dar, das zeigten beispielsweise die Verwendung der bunten Glaspartikel in der anthrazitfarbenen, vertikal strukturierten Acrylarbeit, durch die der Purismus beinahe schon in Richtung Lunapark aufgebrochen wird.
 Dem Faktum der selbstreflexiven Zuspitzung der Malerei seit 1950 entspricht auf der anderen Seite die heiter-ironische Abflachung – soviel als sechste, nur vorläufig letzte Wegmarke. Es geht nicht mehr darum, die Dinge zu feiern, zu komplizieren oder zu mystifizieren, sie werden gemacht.