„Serendipity ist die vom Schicksal gewährte Gunst, unerwartete Entdeckungen zu machen –
eine Gunst, die jedoch nur jene erfahren, deren Geist und Sinne dafür offenstehen.“



Projekt Serendipity

farben formen wirklichkeit

oskar putz im gespräch, erzählt von otto kapfinger



im alter jetzt, sagt er, sei er frei geworden, sei er noch einmal radikal geworden, habe er die lang durchgehaltene, seine konsequent durchgehaltene konstruktive malerei hinter sich gelassen – diese strikte, sachliche logik der farborganisation, diese puristische strenge und objektivität; seit einigen jahren, rechnet er nach, habe er sich schritt für schritt in eine subjektive freiheit gewagt. man könne ruhig sagen: er hätte sich ganz unverfroren wieder ein informelles, ein intuitives spielen mit der farbe erlaubt, ein spontanes arbeiten im augenblick; und damit habe er jetzt die scheinbare ordnung der rationalität beiseite gelegt, sei ihm das zulassen oder das aufspüren des ungeordneten, des sogenannten chaotischen auf der leinwand, auf dem papier mehr und mehr interessant geworden, eine neue herausforderung.

im grunde genommen habe er ganz ähnlich begonnen, damals an der akademie. – sieh dir doch, sagt er, dieses gewimmel von farbtupfen einmal an, diese kontrastierenden farbflecken auf meinen frühen arbeiten! sieht es nicht aus, als wären das vergrößerte oder isolierte ausschnitte aus einer farborgie von kokoschka? ist es nicht, als hätte man ein passepartout über eine ecke in einem wasserbild von monet gelegt? oder als würde man ein detail in einem stück von seurat, von klee oder kandinsky unter der lupe betrachten? es waren, sagt er und holt weitere kleine formate aus dem stapel an der rückwand des ateliers hervor, es waren abstrakte farbtumulte, formtumulte, inspiriert auch von craquelé-mustern oder kaleidoskop-effekten. doch das habe er damals, meint er, aufgegeben oder besser gesagt – transformiert in etwas anderes, weil es doch mit dieser geniehaften attitüde verbunden war, mit dieser expressivität, die schon die wilden amerikaner, pollock und die anderen, und auch die informellen hierzulande propagiert hatten, und das sei ihm doch zu gängig gewesen, zu vordergründig subjektiv, und auch schon ausgeschöpft.

so sei er zur konzentration auf das objektive gekommen, auf das rein konstruktive und phänomenologische der malerei, auf diese serielle organisation der farbe auf der fläche. und das habe er dann, sagt er und zündet sich die erste virginier am vormittag an, das habe er dann länge mal breite durchexerziert und durchvariiert, und er sei damit sogar aus der sogenannten autonomen fläche, aus der musealen kunst herausgekommen in die wirkliche wirklichkeit, in die farbgebung und farb/form-organisation von ganzen häusern, von ganzen siedlungen, bürohäusern, einkaufszentren und was sonst noch. und gerade da, bei dieser entäußerung der malerei in einen sogenannten angewandten bereich, gerade da, sagt er, und bläst den rauch über den unter keilrahmen, katalogen, skizzen und büchern begrabenen schwarzen flügel hinweg, da komme diese frage, die grundsätzliche frage, ja noch direkter und schwieriger zum entscheidenden punkt: was passiert mit einem stück stoff, mit einer fläche, mit einem objekt, mit einem stein, mit einer wand aus irgendeinem material, mit einem raum, mit einer form ganz allgemein – wenn ich das mit farbe versehe, überziehe, bedecke, bekleide?

jetzt wirst du einwenden, meint er, und rückt mit einem räuspern die brille auf die nasenwurzel zurück, das sei ja ein alter hut, ein uraltes problem, speziell in der architektur, wo man im 19. jahrhundert jahrzehntelang darüber stritt, ob und wie die aus weißem marmor gehauenen tempel der griechen mit schreienden farben bemalt waren: dieser sogenannte polychromiestreit! sogar die gewölbe der gotik waren bemalt, wenn man sich’s leisten konnte! – und später dann die diskussionen rund um loos, wagner und hoffmann, mit welchen farben man naturholz streichen oder beizen dürfe oder nicht – und dann die nächste spielart der debatte um die expressionistische gruppe der gläsernen kette, oder um le corbusier und um die russischen konstruktivisten – welche farben ikonografisch, ideologisch in der puristischen architekturmoderne gestattet waren, in einer baukunst nämlich, die einerseits ganz auf die pure, nackte schönheit der materialien gesetzt hatte, befreit von aller verzierung, von allen ornaten und ornamentierungen; und die farbe war doch schon immer auch eine verkleidung gewesen, eine verzierung gewesen, eine hülle, eine haut über der substanz, appliziert auf die eigentlichen stoffe und materialien! nuda veritas! – so hieß doch das schlagwort dieser zeit, oder? und andererseits waren etliche dieser baupuristen, sagt er und hebt den zeigefinger – waren die zugleich auch veritable maler gewesen, wie le corbusier oder behrens oder lissitzky, die mit den revolutionären auf diesem gebiet, mit cézanne, mondrian, kandinsky usw., diese fast mystische, von der abbildfunktion befreite strahlkraft der autonomen, der abstrakten farbkomposition entdeckt und erprobt hatten.

wenn du es genau wissen willst, sagt er, und wir blättern durch bauzeitschriften und architekturmonografien mit seinen raumbezogenen farbkonzepten zu diversen projekten, wenn du es wissen willst: alle architekten, mit denen ich arbeiten konnte, haben letztlich meine fragestellung über raum, stoff, farbe, wirkung, wirklichkeit nicht ernstlich mitvollzogen; in der architektur denken sie, eine wand würde den raum unterteilen, oder: der raum würde sozusagen an den flächenkanten brechen, würde durch solche kanten exakt und entscheidend definiert werden; und so arbeiten sie an den raumgrenzen, an den gliederungen, an proportionen etc.; aber ich meine, sagt er und schaut sehr gerade über die brillenränder hinweg, ich meine, der raum ist unendlich und kontinuierlich. dass eine wand eine grenze oder gliederung wäre, das ist eine zu kurz gedachte, zu vordergründige sichtweise. auch wenn da eine stahlbetonwand steht – der raum geht durch sie hindurch! wie das gehen soll? also: mit einer weiter gefassten sichtweise – oder mit genügend mikroskopisch aufgelöster sichtweise – verschwindet diese wand oder sie entpuppt sich als eine nur etwas dichtere fassung von materie als die umgebung ...

farbe ist formlos, sagt er, nach einer pause des sinnierens – farbe ist formlos: das war und ist eine meiner essenziellen erfahrungen, und wenn du mit der farbe an objekte, an wände und räume gehst, dann löst die farbe diese formen eigentlich auf und kreiert eine andere, eine neue wirklichkeit! jede andere auffassung von der wirkung der farbe wäre ein bloßes anmalen, oder ein anpinseln, vergleichbar dem sogenannten ausmalen vorgegebener formen, wie sie es in naiver weise in kindergärten und schulen immer noch praktizieren! und deshalb habe er bei allen seinen verschiedensten farbkonzepten für architektur immer beabsichtigt, die architektur oder die objekte eben nicht anzumalen oder bloß in ihren eigenen plastischen werten zu kommentieren, zu unterstützen, zu überhöhen – sondern eigentlich im gegenteil, über das gegebene objekthafte hinaus weitere raumzusammenhänge zu schaffen, zusätzliche raumwerte zu schaffen; indem er etwa die zwischenräume behandle und hervorhebe, die sogenannten negativräume – und er deutet auf skizzen für eine hofartige gruppierung von baukörpern –, indem er diese leere zwischen objekten und bauteilen mit der farbe als eigenes kontinuum hervorhebe oder unterstreiche, oder indem er ganz selbstständige farbverläufe über die strukturen, über die plastischen gliederungen und kanten von bauteilen hinweg ziehe.

die farbe, sagt er und schiebt ein bündel von computerausdrucken heran – die farbe, auf sachen, objekte, bauteile angewendet, kann hauptsächlich in zwei richtungen wirken: wenn man zum beispiel ein ding gleichmäßig, monochrom mit einem farbton anstreicht – all over –, dann egalisiert das alle gegebenen texturen, alle oberflächenunterschiede, alle materialwirkungen und detailaspekte; die farbe vernichtet die gegenständlichkeit, sie schließt alles unterschiedliche zusammen, sie entstofflicht das ding ins abstrakte und bestärkt die rein plastische formwirkung des ganzen. denk nur an die farbigen plastiken der pop-art in england. – und eine andere wirkung von farbe ist die fast gegenteilige, dass du nämlich die ganzheit, die kontur, die plastizität eines dings damit zerstören kannst, auflösen kannst, verändern kannst – denk an die wirkung von tarnfarben in der natur und in der militaristik. in der skulptur hat zum beispiel roland goeschl am anfang die farbe so eingesetzt, dass sie formen verbindet, die plastisch eigentlich getrennt sind. ich habe, sagt er und deutet auf diese kleinen ausdrucke, ich habe in beide richtungen experimentiert, in die zweite vielleicht noch intensiver.

da siehst du zum beispiel eine serie, die ich mit würfeln gemacht habe; würfel haben sechs flächen, acht ecken, zwölf kanten, und ich habe dieses volumen mit farbflächen überzogen und habe dann das geometrisch exakt angemessene farbkleid, diese farbhaut in verschiedene richtungen und in verschiedenen phasen über den würfelkörper hinweg verschoben, sozusagen verrutscht – und du siehst ja, was dann passiert! du meinst, sagt er und sucht nach einem katalog unten im regal, du meinst, ich hätte so was schon vor fünfzehn jahren gemacht in der kix-bar in der bäckerstraße? richtig – und dort gibt es eben beides, einerseits das farbkleid als eine konsonante, exakte akzentuierung der architektur; es gibt dort aber in anderen raumbereichen auch die von der raumstruktur losgelösten flächen und kanten einer eigenständigen farbkomposition. mein farbkonzept, so total und alles einhüllend es dort auftritt, es unterläuft eindeutig die formfixierung des raumes, wie auch meine bilder immer darauf angelegt waren und sind, die ikonografische bildfixierung der malerei aufzulösen, in frage zu stellen; farbe ist formlos, sagt er nochmals, und er könne es nur wiederholen: und auch der raum sei formlos, und farbe im raum sei also doppelt formlos, und es gehe letztlich um den imaginären raum der wahrnehmung, um die struktur unseres sehens, um die apparatur, um die wirkungsweise der sinne, die unsere wirklichkeit konstruieren.

das alles, das ist selbstverständlich nichts neues, sagt er und öffnet das fenster zum hof – nach einer pause, die wir einer tasse kaffee gewidmet haben und nach einem rundgang durch weitere räume mit weiteren bilderstapeln und bücherregalen; du weißt, setzt er fort, eines meiner idole, wenn man so sagen kann, war richard paul lohse. und mit mondrian, kandinsky, mit den kubisten, mit malewitsch, mit albers und so fort habe ich mich intensiv beschäftigt; über lohse und über bruno tauts farbkonzepte habe ich texte geschrieben; werk und theorie der konstruktivisten aller couleurs habe ich bis ins kleinste studiert und analysiert, selbstverständlich auch in ihren überlagerungen mit den parallelen architekturideologien, bis in die gegenwart herein; zum beispiel hat kandinsky 1908 in einem aufsatz unter dem titel farbensprache geschrieben: damit die farbe wirken kann, als solche, muss sie von der realen form befreit werden. doch was kandinsky dann gemalt hat, wurde beispielsweise von lohse später völlig abgelehnt. lohse hat das kompromisslos auf den punkt gebracht, und das faszinierte und überzeugte mich seinerzeit absolut, wenn er zum beispiel formulierte: die struktur der begrenzung diktiert die struktur der mittel – er meinte damit vor allem die geometrie der rechteckig formatierten, auf den rahmen gespannten leinwand; anonymität der mittel, relativität der dimension, erweiterbarkeit – das war lohses credo, und er sagte glasklar: die konstruktive kunst ist eine enzyklopädische kunst, eine kunst der vernunft, eine moralisierende, ideologische, politische kunst, analyse und ordnung zugleich ...

aber – und dazu braucht es jetzt eine neue virginier – aber, sagt er, irgendwann wurde mir klar: so offen und logisch und moralisch und demokratisch das angelegt war und gerade von lohse in wort und tat lupenrein verkörpert wurde – es war ein geschlossenes system, in sich geschlossen, und somit eben in sich widerspruchsfrei, stimmig, absolut, absolut in sich. rundherum gab und gibt es aber dennoch viel anderes; nimm einmal matisse, den ich ja auch sehr, sehr hoch schätze. auch matisse ging von einer vergleichbaren, von einer verwandten grundlage aus, wenn er sagte: ich suche nach intensität der farbe, wobei der gegenstand gleichgültig ist, oder wenn er bei einer anderen gelegenheit schrieb: ich benütze die allereinfachsten farben, ich transformiere sie nicht selbst, es sind die gegenseitigen beziehungen, die das besorgen – oder an einer anderen stelle: sicher geht es hauptsächlich darum, wie in der malerei überhaupt, auf einer sehr beschränkten fläche die vorstellung der unendlichkeit zu erwecken ...

mehr gibt es doch nicht zu sagen, oder? und bedenke, was für ein vielfältiges werk matisse mit dieser haltung geschaffen hat. sicher, auch bei lohse ist das endlose der geometrischen strukturalität, das nicht-hierarchische der farb- und formkomposition zentrales anliegen, und zugleich ist es letztlich auch ein dogmatismus. diese ordnung – als weltbild gesetzt, eine gesellschaftliche ordnung illustrierend und antizipierend – so verständlich das in seiner zeit als aufklärerische, kritische position war, so ist das doch nicht verabsolutierbar, sonst wird es eine zuchthausordnung. die welt hat sich weitergedreht, physik und philosophie haben unser weltbild verändert. es gibt heute ganze bibliotheken über die problematik zwischen sogenannter ordnung und sogenanntem chaos, über sinn und unsinn, über die chaostheorie, über die ambivalenz, über die uneindeutigkeit der physikalischen wirklichkeit schon im mikrokosmos; die astronomen und die weltraumkameras zeigen uns längst ganz andere bilder des universums als die simplen pythagoreischen harmonien der planeten. kurz und gut, sagt er und breitet eine reihe auf papier gemalter farbkompositionen auf dem boden aus – irgendwann musste ich aus diesem puristischen korsett wieder heraus, musste ich mich auch von lohse gewissermaßen verabschieden, und ich habe auch gesehen, dass viele seiner kompositionen letztlich zentralsymmetrisch sind, und das passt nicht zusammen, das ist wieder fast sakral, starr, metaphysisch, und es war mir zuletzt auch klar geworden, dass er einzig und allein seine eigene arbeit als kunst gelten ließ, und alles andere zeitgenössische nicht ...

bevor wir das am boden da ansehen, sagt er und tritt zwei schritte zurück, überleg noch einmal folgendes: wenn du meine sachen aus den 1980er jahren zum beispiel anschaust, dann siehst du, dass es nirgends eine zentralistische symmetrie gibt: ob in der serie, die ich teilung genannt habe, oder in der serie rochade, oder bei den nur chronologisch mit der jahreszahl und fortlaufenden nummern betitelten formaten; in jedem fall findest du die rein auf horizontale und vertikale teilungen angelegte organisation der flächen und farben; du kannst das natürlich unbefangen und sozusagen interesselos sehen und die valeurs, die zusammenstellung der farben nach deinen subjektiven kriterien von schön, unschön, interessant, fad, dekorativ, gewagt, stumpf, freudig, hübsch, düster usw. einschätzen und beurteilen. aber ein zweiter blick wird dich vielleicht weiter hineinziehen in die sache, und du wirst gesetzmäßigkeiten entdecken, du wirst beziehungen in der farben- und flächenverteilung aufspüren, und so ist es von mir auch angelegt: es sind gleichsam optische spiele, rätsel, versuchsanordnungen, die ich zuerst in kleinen skizzen mit farbstiften auf quadriertem papier entworfen habe, und die damit eigentlich auch schon fertig sind, denn ihre vergrößerte, definitive ausführung hätte auch irgendein anderer oder ein computer besorgen können.

und er deutet auf die an der wand aneinandergereihten quadratformate: der puristische, emotionslose farbauftrag, sagt er, die gleichsam spurlose präsenz der farben, die du bei diesen früheren sachen siehst – matt, mit der walze aufgetragen, die scharfen ränder mit klebstreifen vorher abgeklebt, das gehört absolut dazu; farbe und fläche sind eins, möglichst ohne jede ablenkung oder zufälligkeit; und das eigentliche spiel der gedanklichen wahrnehmung, der rekonstruktion des sogenannten kunstwerks beginnt damit, wie du mit den augen über diese flächen hin und her wanderst, wie du in gedanken mit der sehbewegung mitgehst und nach beziehungen suchst, vergleiche anstellst, das rätsel aufzulösen versuchst, warum gerade diese farbe da unten steht und dort oben auch wieder steht, wenn du die spielregeln entdecken und verstehen willst, nach der diese optische versuchsanordnung ausgedacht ist. und dabei gehst du optisch und in gedanken – und irgendwie auch in einer inneren körperlichen bewegung – in einem mehr oder weniger rationalen oder kontrollierten muster virtuelle wege über diese leinwand hinweg, über die bildtafel hinweg; es wird anfangs eher ein zufälliges, ein suchendes, sich verirrendes, sich wiederholendes und sprunghaftes muster der sehwege sein, kreuz und quer, vor und zurück, und wenn du dahinter kommst, wie die konstruktionsregel lautet, wird es rhythmisch eindeutig werden, wird es plötzlich logisch, ornamental sogar, wenn du so willst.

mehr ist dazu nicht zu sagen, sagt er mit einem tonfall gemischt aus ironie und stoizismus – diese lesbarkeit war sozusagen meine objektive ansage, und wenn du das spiel jeweils lesen kannst, ist die konsonanz zwischen mir, dem medium der bildfläche und dir hergestellt – und das ist es. nun wirst du einwenden, dieser vorgang der komposition wie auch der rezeption sei doch seit urzeiten in jeder malerei, in jeder kunst gegeben gewesen, genau so! was wäre dann das besondere an meinem purismus gewesen? du hast selbstverständlich recht, der unterschied ist aber erheblich, denn die malerei, die kunst hat früher mit solchen mitteln immer auf etwas anderes hingedeutet, auf etwas, das jenseits des bildes eine realität, eine wahrheit, ein versprechen, eine erklärung, eine ideologie, eine versicherung, eine tröstung, eine transzendente wirklichkeit, einen sinn kreieren sollte, vermitteln sollte; diese zeiten sind vorbei! mit der aufklärung, mit der naturwissenschaft, mit der umwertung aller werte durch die säkularisierung der gesellschaft sind diese referenzen verschwunden, sind alle mythischen und animistischen traditionen entwertet worden. wie formulierte es boris groys, dessen neues buch du mir vorhin gebracht hast? wo religion war, ist design geworden ...

ich denke, sagt er mit einem rundblick auf den boden voller papiere, ich denke, das war auch einem lohse oder albers bewusst, und dennoch haben sie sich letztlich der verstörung, der abgründigen erkenntnis dieser dinge nicht gestellt, haben stattdessen die behauptung der rationalität, der sinnreichen weltordnung und gedankenordnung mit und durch kunstordnung vorgeschoben. du hast es vielleicht bemerkt und mir auch vorgeworfen, setzt er fort – schon in meinen puristischen bildern und farbkonzepten ist, anders als bei lohse oder albers, nicht die ordnungskonstruktion die finale tendenz, sondern eher ein fast dekonstruktiver zug, eine tendenz, die ordnungen, die systeme ins leere laufen zu lassen, eigentlich aufzulösen. schau meine farbpalette an, da gibt es weder die reinen farben wie bei mondrian oder bei den russen, noch gibt es die standardisierten, aufgefächerten farben wie bei lohse; jede meiner farben ist individuell abgemischt und sozusagen gebrochen, oder auch regelrecht zugespitzt – geschärft, könnte man sagen; es gibt keine normierte skala, viele töne sind geradezu unschön, hybrid – warum? weil ich nicht nur die konventionellen bedeutungszusammenhänge der farben überschreiten oder vermeiden wollte, sondern weil ich auch der modernen psychologisierung der farbwirkungen – wie sie etwa kandinsky aufzeigte – entgehen wollte. was mir zu zeigen wichtig war: die wirklichkeit der farben ist ihre letztlich niemals fixierbare dynamik der übergänge, der unterscheidungen, der gegenseitigen relativierungen und verschiebungen – und das, kurz gesagt, ist der eigentliche inhalt meiner puristischen kompositionen. all diese alten semantischen und neueren psychologischen farbtheorien und farbsysteme sind letztlich nur lokal und temporär, sind nur punktuell stimmig; es gibt keine universelle bedeutung oder psychologische gesetzmäßigkeit; die ordnungen und zuordnungen, welche wir in der malerei, in der kunst und generell immer suchten und suchen, sind vollkommen fragil, zufällig – ein schwacher schleier über der zufälligkeit und abgründigkeit der realität. – wie formulierte es einer deiner lieblingsdichter, novalis? – im kunstwerk muss das chaos durch den flor der ordnung schimmern ...

in dieser richtung, so ähnlich, bin ich jetzt unterwegs, das chaos, das zufällige interessiert mich mehr als die ordnung; und so habe ich mich vorgewagt, langsam – du kennst mich ja –, und zuerst das scharfe abkleben der farbränder weggelassen, und so habe ich anfangs mit der walze diese ränder mehr und mehr verzittert, bin immer mehr aus der formfixierung, aus der flächenfixierung meiner farben hinausgekommen. ich habe die farbe fließen lassen, die bilder am boden gemalt, bin zum papier gekommen, weil es weniger respekt gebietet als die leere leinwand oder die holzplatte. am boden kann die farbe sich freier bewegen, und ich beginne jetzt ohne jedes konzept, es gibt keine vorbereitenden konstruktionsskizzen mehr, ich versuche, mich ganz leer zu machen, innerlich, ganz absichtslos, und lasse den ersten farbauftrag, den ersten strich mit der walze kommen, und sehe zu, was passiert, und reagiere darauf, aber möglichst nicht mehr im alten verhaltenszwang des dynamischen ausgleichs, wo du zwangsläufig dann, wenn du einen fleck links oben gemacht hast, als nächstes rechts unten oder sonst wo das gleichgewicht auf der fläche mit dem nächsten schritt wiederherstellen willst – das ist wohl unser instinkt, oder es ist gelernt, wie auch immer, jedenfalls will ich auch das loslassen ...

wir blättern nun durch diese stöße am boden, und er setzt fort: du siehst aber, dass in diesem informellen und gestischen agieren mit farben, mit der walze, sehr oft noch meine alte struktur der streng vertikalen und horizontalen richtungen und teilungen durchschlägt, aber zugleich gibt es auch ganz neue effekte: farben können übereinanderliegen und gegenseitig sozusagen durchscheinen; es wird alles gefranst, geschliert, mehrdeutig, vieldeutig, offener, auch schrägen tauchen auf – und so bin ich auf diesem weg aus der ordnung hinaus in die unordnung, die irgendwie auch immer wieder ordnung wird, weil wir gar nicht anders können, als mit dem geist und mit den sinnen eine struktur zu suchen und zu behaupten, damit wir uns orientieren können.

wir haben vorhin auch über musik gesprochen, sagt er, nachdem wir bei einem weiteren kaffee in der küche gelandet sind – und du hast mir auf meinem verstaubten flügel die aria aus den goldberg-variationen vorgespielt! wir haben über johann sebastian bach gesprochen; ich habe ihn immer geliebt, und die frage war und ist, warum seine fugen und partiten uns immer noch etwas geben und uns weit näher sind als zum beispiel alles von chopin, obwohl uns auch chopin dann und wann noch rühren kann; aber bachs musik ist eben frei von diesen referenzbindungen, die fugen sind in alle beliebige tonarten transponierbar und auf beliebigen instrumenten spielbar, ohne dass sie irgendetwas verlieren. es gibt bei bach keine ästhetischen wertungen, kolorierungen oder konventionen von tonarten – wie es das späte 18. und das 19. jahrhundert gebracht und gepflegt hat; es ist reine logische organisation von tönen, und deshalb haben von schönberg bis zu john cage alle bach so bewundert und studiert, weil er in der logik dieser tonorganisation letztlich über diese logik, über diese ordnung hinausging und die zufälligkeit, die endlose, fluchtpunktlose modulierbarkeit seiner systeme gewagt hat – denk nur an die absurditäten des musikalischen opfers oder an die sich selbst verschlingende komplexität in seiner kunst der fuge ...

mehr ist es nicht, aber auch nicht weniger, sagt er, und fügt hinzu, bevor wir einen vorläufigen schlussstrich ziehen: die unordnung ist unerreichbar! ich habe damit gewissermaßen unbewusst vor vielen jahren einmal begonnen, ich bin dann durch den ganzen kosmos meiner konstruierten, zugleich bedeutungslosen ordnungen hindurchgegangen, und nur nach dieser erfahrung kann ich jetzt dorthin sozusagen zurückkommen und – diesmal bewusster und zugleich absichtsloser – auf einer anderen stufe das abenteuer der ordnungslosigkeit unternehmen. das ist es, es ist paradox, aber unvermeidlich. – und jetzt werden wir was richtiges essen und trinken, ja?